Droht uns ein neuer Antisemitismus? – Hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion in Tann (Rhön)

Kramer: „Bildung beinhaltet weit mehr als nur Wissensvermittlung.“

Tann (Rhön). Gestern Abend hatte in der Rhönhalle Tann im osthessischen Tann (Rhön) im Landkreis Fulda eine Podiumsdiskussion zur der Frage „Droht uns ein neuer Antisemitismus?“ stattgefunden. Eingeladen zu der Veranstaltung hatte der Verein „Zukunft Bildung Region Fulda“. An der Podiumsdiskussion, die von der Direktorin der Point Alpha Stiftung, Ricarda Steinbach, geleitet wurde, nahmen neben der Geschäftsführerin des Sara Nussbaum Zentrums für jüdisches Leben Kassel und Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Kassel, Ilana Katz, mit dem Präsidenten des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen, Stephan J. Kramer, dem Präsidenten des Oberlandesgerichtes Frankfurt a. M. sowie Präsident am hessischen Staatsgerichtshof, Dr. Roman Poseck, sowie dem Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Frankfurt a. M. a. D. sowie Richter am hessischen Staatsgerichtshof und damit einem Experten für die Justiz im Nationalsozialismus, Dr. Georg D. Falk, ebenso hochkarätige Diskutanten teil. Die Podiumsdiskussion stand im Kontext der derzeit in Tann (Rhön) noch andauernden Ausstellung „400 Jahre Juden in der Rhön“.

„Droht uns ein neuer Antisemitismus?“ – Auf die von der Direktorin der Point Alpha Stiftung, Ricarda Steinbach, eingangs gestellte Frage antwortete der Präsident des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen, Stephan J. Kramer, dass es heute keinen neuen Antisemitismus gebe; Vielmehr sei heute ein Antisemitismus unter uns, der demjenigen seinerzeit kongruent sei. Im Zeitalter der schnellen medialen Verbreitung sei dieser jedoch „eingehüllt in einem neuen Gewand“, sodass man heute von einer „neuen Ideologie“ sprechen könne, „die die Juden hasse“. Gefährlich werde es nach Kramer, wenn Antisemitismus salonfähig wird. „Wir müssen uns die Frage stellen, inwieweit ist unsere Gesellschaft bereit, wirklich etwas gegen den Antisemitismus zu tun?“, so der Präsident des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen, Stephan J. Kramer. „Höchst aktuell“ sei nach den Worten des Präsidenten am Hessischen Staatsgerichtshof, Dr. Roman Poseck, die derzeitige Zunahme des Antisemitismus und damit ein Thema, das sich lohne, es besonders zu betrachten. Nach Poseck umgebe uns heute eine „Form eines latenten Antisemitismus“, der jeder Zeit zu einem „aktiven Antisemitismus“ werden- „zum Leben erweckt“ werden könne. Damit dies nicht geschehe, seien wir alle dazu aufgerufen, diesem Phänomen entgegenzuwirken. Dazu bedarf es nach Poseck fünf Leitlinien: Eine klare Haltung, eine konsequente Strafverfolgung, Bildung, Integration sowie der Zusammenhalt in der Gesellschaft. Der Antisemitismus sei „keine Neuerfindung“, da dieser vielfältiger geworden sei, sei dieser nicht einfach zu erkennen, diesen Standpunkt vertrat gestern Abend die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Kassel, Ilana Katz. „Menschen treffen Aussagen, von denen sie nicht wissen, dass diese antisemitisch sind.“ Nach Ilana Katz sei es Aufgabe der Zivilgesellschaft, dem Antisemitismus entgegenzuwirken. Gleichzeitig und in Anlehnung an den Präsidenten des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen, Stephan Kramer, betont sie, dass insbesondere Juden, da sie die gleichwertige Gesellschaft sind, gegen den Antisemitismus kämpfen müssen. Mit den Redebeiträgen seiner Vorredner in der Quintessenz d`accord war Dr. Georg D. Falk, Richter am hessischen Staatsgerichtshof.

Bildung, dringende Aufarbeitung des Geschehenen und Unterstützung, forderte man gestern Abend im Schulterschluss da der Antisemitismus mittlerweile sogar seinen Niederschlag an katholischen Schulen finde. Was also tun, um dem Antisemitismus, der inzwischen sogar an unseren Schulen angekommen zu sein scheint, entgegenzuwirken? Diese Frage wirft auch die Frage nach der Vermittlungsinstanz auf. Ist die Pädagogik hier womöglich überfordert? Kritik von den Diskutanten gab es gestern Abend auch an unüberlegten Äußerungen von Politikern, die sich einer Sprache bedienen, die oftmals nur noch mehr Hass schürt, als das Gegenteil erreicht. In diesem Kontext formulierte Stephan Kramer die denkwürdige Aussage: „Bildung beinhaltet weit mehr als nur Wissensvermittlung.“ Und was ist mit der Gesellschaft, die – wie eingangs beschrieben – dazu aufgerufen ist, dem Antisemitismus entgegenzuwirken? Und auch hier scheint Kramer die Antwort zu wissen: „Kein Kind wird als Antisemit geboren. Die Gesellschaft macht ein Kind erst zu einem Antisemiten.“ Was wir hier brauchen, um über den Antisemitismus die Oberhand zu bekommen, ihm den Nährboden zu entziehen, sind nach dem Präsidenten des Oberlandesgerichtes Frankfurt a. M., Dr. Roman Poseck, vor allem eine „klare Haltung, Mut und Zivilcourage“ nötig.

Um dafür zu werben, sich als Gesellschaft und im Gemeinsamen für die Demokratie einzusetzen, erinnerte Stephan Kramer am gestrigen Montagabend an das denkwürdige Zitat von Willy Brandt aus dem Jahre 1969, welches er im Kontext seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969 mit der Ankündigung „mehr Demokratie zu wagen“ formulierte – dies uns heute gerade auch unter dem Aspekt des Erstarkens der AfD wegweisend sein sollte: „Nein: Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.“

Dr. Michael Imhof, Kurator der Ausstellung „400 Jahre Juden in der Rhön“, hieß die gestrige Podiumsdiskussion abschließend als eine sehr interessante sowie sehr bewegende Diskussion, die nicht nur berührte, sondern auch aufzeigte, wie facettenreich dieses Thema konnotiert ist. Bezugnehmend des Antisemitismus – gestalte sich diese, unsere gesamtgesellschaftliche Aufgabe, auf diesen zu reagieren, als enorme Aufgabe und Herausforderung – dies sowohl auf der kommunalen, wie auf der politischen Ebene. Imhof verblieb vor etwa 50 Zuhörerinnen und Zuhörern mit der Bemerkung, dass die Stadt Tann (Rhön) mit der Ausstellung „400 Jahre Juden in der Rhön“ eine neue Note bekommen habe. +++ Jessica Auth

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