
Katholische Akademie erinnerte in Ringvorlesung an die Schlussakte von Helsinki und ihre brüchige Gültigkeit in Zeiten des Ukraine-Kriegs. „Wo wären wir heute, hätte Putin sich daran gehalten?“ Mit dieser eindringlichen Frage erinnerte Professor Hanns Jürgen Küsters an ein europäisches Dokument von historischer Tragweite: die Schlussakte von Helsinki aus dem Jahr 1975. Was einst als Hoffnung auf ein friedlicheres Europa gefeiert wurde, erscheint heute – angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine – wie ein zerbrochener Vertrag.
Im Rahmen der Ringvorlesung der Katholischen Akademie in Kooperation mit der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung sprach der Politikwissenschaftler und Zeithistoriker über die historische Entwicklung der europäischen Sicherheitsordnung – und ihr dramatisches Scheitern in der Gegenwart.
Vom Kalten Krieg zur kooperativen Sicherheit
Akademiedirektor Gunter Geiger spannte in seiner Begrüßung den Bogen vom Kalten Krieg zur Gegenwart. „Wir glaubten, nach Helsinki eine neue Ordnung für Europa geschaffen zu haben“, sagte er. Doch mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine sei klar geworden, wie fragil diese Ordnung war – oder wie freiwillig sie in Wahrheit ist.
Tatsächlich ist die Schlussakte von Helsinki rechtlich nicht bindend, wie Küsters erklärte. Sie fußt auf dem Prinzip der Freiwilligkeit und stellt damit weniger ein juristisches Abkommen als vielmehr eine politische Absichtserklärung dar. Dennoch setzte sie wichtige Zeichen: Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Konfliktlösung, Zusammenarbeit in Wirtschaft, Wissenschaft und Menschenrechten.
Diplomatie und ihre Grenzen
Der Blick zurück zeigt, dass der Weg zu Helsinki nicht über Nacht entstand. Küsters verwies auf erste zaghafte Kontakte zwischen Bonn und Ostberlin bereits in den 1950er und 60er Jahren. Entgegen verbreiteter Annahmen begannen Bemühungen um Entspannung nicht erst unter Kanzler Willy Brandt. Schon unter Adenauer und Ehrhard gab es Überlegungen zu Annäherung und gesamtheitlicher Sicherheitspolitik.
Ein wichtiger Meilenstein war der Grundlagenvertrag von 1972, der das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der DDR neu regelte. Doch dieser wurde – wie Küsters betonte – in Moskau wie Washington mit Argwohn betrachtet. Besonders die Sowjetunion hatte kein Interesse an einer Wiedervereinigung oder an einem Friedensvertrag. Vielmehr wollte sie den Status quo bewahren – oder nur dann verändern, wenn es in ihrem geopolitischen Interesse lag.
Wirtschaftliche Interessen, politische Folgen
Trotz politischer Spannungen entwickelten sich wirtschaftliche Beziehungen, besonders zwischen Westdeutschland und Moskau. „Wir bezahlen den Import von Rohren mit dem Export von Gas“, lautete damals die einfache Gleichung des sowjetischen Staatschefs Leonid Breschnew. Doch die wirtschaftliche Öffnung hatte unbeabsichtigte Nebenwirkungen: Sie gab oppositionellen Bewegungen wie Solidarnosc in Polen oder Charta 77 in der Tschechoslowakei neuen Auftrieb – und wurde damit zu einem Brandbeschleuniger für den Wandel im Ostblock.
Verpasste Chancen, verlorenes Vertrauen
Dass Grenzveränderungen möglich sein sollten – wenn sie einvernehmlich und friedlich geschehen –, war eine zentrale Forderung des Westens in Helsinki. Ein Grundsatz, der mit der Annexion der Krim 2014 und dem Angriff auf die Ukraine 2022 durch Russland offen verletzt wurde. „Zugeständnisse werden in der russischen Diplomatie oft als Schwäche gedeutet“, so Küsters. Ein Abweichen von der eigenen Position finde kaum statt – auch nicht unter Wladimir Putin.
Küsters Fazit fällt ernüchternd aus: „Wir waren schon einmal weiter.“ Die mühsam aufgebaute Vertrauensbasis zwischen Ost und West ist erneut zerstört. Das Fundament, das mit der Schlussakte gelegt wurde, trägt nicht mehr. Doch gerade in dieser Erkenntnis liegt auch ein politischer Auftrag: Geschichte verstehen, um aus ihr zu lernen – und nicht zu vergessen, dass Frieden nie selbstverständlich ist. +++
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