Die Pandemie als Kooperationskatalysator?

Dr. Markus Kaim im Interview zu „Die Corona-Krise und ihre Folgen“

Die Corona-Krise hat einen wissenschaftlichen Entwicklungsschub hervorgebracht, urteilt Politik-Experte Kaim. M. Schwab

Einerseits enorme Staatsschulden weltweit, soziale Verwerfungen, eine überforderte Gesundheitsinfrastruktur, einen verstärkten Gegensatz von arm und reich, andererseits aber auch die gewachsene Bereitschaft global enger zusammenzuarbeiten. In einem Interview im Vorfeld seines Vortrages zu „Die Corona-Krise und ihre Folgen“ analysiert Dr. Markus Kaim die aktuelle Lage. Kaim, Senior Fellow der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin sprach anschließend auf einer Kooperationsveranstaltung der Fuldaer Sektion für Sicherheitspolitik (GSP) mit dem Bildungshaus des Bistums im Fuldaer Bonifatiushaus.

Was war wirklich der Auslöser der Corona Pandemie, und warum tut man sich so schwer, die Wahrheit zu benennen?

Dr. Kaim: Was der Auslöser gewesen ist, wissen wir konkret noch immer nicht. Es gibt widerstreitende Thesen. Eine besagt, dass der Ursprung der Tiermarkt in Wuhan gewesen sei. An dieser These hält die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am ehesten fest. Daneben gibt es die Theorie, dass das Virus letztlich in einem chinesischen Labor entstanden, gezielt gezüchtet worden und außer Kontrolle geraten sei. Die WHO hat die These vom Labor erst einmal zurückgewiesen. Die Frage des geographischen Ursprungs, also wo und wie ist das Virus entstanden, ist hochgradig politisiert worden. Der letzte amerikanische Präsident hat mit den Wort- Variationen „Kung-Fu-Virus“ oder „Wuhan-Virus“ gespielt. Diese Begriffe sind gezielt eingesetzt worden zur Verächtlich- und Verantwortlich-Machung Chinas. Die Chinesen weisen dies explizit zurück. Gerade in dieser so geopolitisch aufgeladenen Lage ist deshalb niemand bereit, sozusagen der Wahrheit ihren Weg zu lassen. Teile der chinesischen Führung behaupten sogar, das Virus sei in den USA entstanden und in einem Labor außerhalb Washingtons gezüchtet worden. Ich glaube, die Antwort wird im Dunklen bleiben, weil damit auch die Frage nach Verantwortung einhergeht. Wenn die Weltgesundheitsorganisation auf China zeigen würde und nachweisen könnte, dass die chinesischen Behörden ihrer Aufsichtspflicht nicht nachgekommen wären, dann stünde nicht nur die Frage nach Reparationsforderungen im Raum, sondern das chinesische Modell würde diskreditiert werden. Das erklärt vielleicht auch, warum die Chinesen sich in diesem Punkt so sperrig verhalten.

Was haben die Chinesen anders gemacht als der Rest der Welt?

Dr. Kaim: Es gibt die Theorie, dass autoritären oder autokratischen Systemen mehr Mittel zur Verfügung gestanden hätten mit der Pandemie umzugehen als es Demokratien getan hätten. Diese These teile ich explizit nicht. Ein Gegenbeispiel ist Russland, wo die Pandemie weitgehend außer Kontrolle geraten ist. Ich glaube, die Frage Autokratie oder Demokratie ist nicht der Schlüssel, um zu verstehen, ob ein System besser oder schlechter mit einer Pandemie umgeht. Ich glaube einer der Schlüssel zum Verständnis ist der hochgradige Einsatz von Technik, künstlicher Intelligenz, Informations- und Gesichtserkennungssoftware, die so genannten „Big Data“, also riesige Datenerhebungen, wie es sie im übrigen auch in Israel gegeben hat. Das scheint mir bei den Ländern, die die Lage sehr schnell in den Griff bekommen haben, ein entscheidender Baustein gewesen zu sein. Der zweite Baustein, der aber auch nichts mit der Frage des Systems zu tun hat, ist die Entschlossenheit und Schnelligkeit, das eigene Land zu isolieren. Da denke ich zum Beispiel an ein Land wie Australien. Im Gegensatz dazu ist das Wehklagen des Frühjahrs 2020 augenfällig: „Ihr dürft die europäischen Grenzen im Schengen-Raum nicht schließen“. Diesen Punkt würde ich, um Gesundheitsminister Spahn zu zitieren, noch einmal kritisch reflektieren, ob dieser Weg nicht vielleicht doch der bessere gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund muss man sogar für Donald Trump eine Lanze brechen Denn Ende Januar letzten Jahres haben die Amerikaner alle Flüge aus China gestoppt. Man ahnte in den USA offenbar, dass es besser wäre, das eigene Land vom internationalen Reiseverkehr abzuriegeln. Leider haben die Amerikaner dies dann nur halbherzig und nicht konsequent genug umgesetzt.

Welche Schäden (sozial, auf Bildungsebene, wirtschaftlich bis hin zur Infrastruktur und den rasant gestiegenen Staatsschulden) sind entstanden?

Dr. Kaim: Die Notwendigkeit von Staatsschulden ist unbestritten, um sich damit Handlungsspielräume zu eröffnen. Ich zweifele nicht daran, dass die Schulden zurück gezahlt werden. Wenn die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie spürbar werden und es zum Kassensturz kommt, werden die Handlungsspielräume von Bund und Ländern jedoch in den nächsten Jahren erst einmal geringer werden. Dann wird die Frage im Raum stehen, was wir uns noch leisten können und wollen. Es wird priorisiert werden müssen. Interessant wird sein, zu welcher Priorisierung die Politik oder die Gesellschaft in Deutschland kommen. Zum Beispiel: Ob der Anstieg des Verteidigungshaushalts der letzten Jahre so linear weitergehen wird. Oder ob wir das Zwei-Prozent-Ziel der Verteidigungsausgaben trotz der politischen Bekundungen erreichen werden. Das wage ich zu bezweifeln. Und: Ob wir uns jede soziale Wohltat, die der Sozialstaat bereithält, in Zukunft noch leisten können. Auf alle Fälle werden die Handlungsspielräume enger werden. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sehen wir noch gar nicht wirklich. Aber es gibt Mutmaßungen: Der Bundesverband des Einzelhandels geht von rund 70.000 Pleiten aus. Das ist die Boutique ebenso wie der kleine Schuhladen in Fulda. Das sich aufgrund der ausgesetzten Schulpflicht in den Familien abgespielt hat, können wir nur erahnen. Abgespielt im Sinne von Gewalt gegenüber Frauen und Kindern aufgrund prekärer Verhältnisse und Lebensumstände. Mich hat ein Bericht bedrückt, den ich von einer Mainzer Kinderambulanz gesehen habe. Die zuständige Chefärztin berichtete, sie habe seit Wochen keine Fälle misshandelter Kinder mehr gesehen. Es wäre aber widernatürlich zu vermuten, dass Kinder nicht mehr geschlagen werden. Wir sehen es einfach nicht mehr, weil sie nicht zur Schule gehen, nicht zur Kita gehen, die Lehrer und Kindergärtnerinnen nicht intervenieren können. Es ist niemand da, der sagt, da ist ein Kind auffällig, da müsste das Jugendamt hinzugezogen werden. Eine ebenfalls völlig unbekannte Größe ist der Verlust an Bildung. Die Folgen für die internationale Politik, also die sozialen Verwerfungen und wirtschaftlichen Folgen, sind Im Gegensatz dazu offensichtlicher.

Stichwort Krisenpläne – warum ist eine bereits seit 2017 quasi vorliegende „Covid-Pandemie Blaupause“ des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) als gemeinsame Risikoanalyse mit dem Robert-Koch Institut nicht angewendet worden?

Dr. Kaim: Da würde ich die Politik in Schutz nehmen wollen. Die Prioritäten in der deutschen Politik im Frühjahr 2020 lagen woanders: Ärger mit Donald Trump, Ostukraine-Krise, außenpolitisch weiterhin Afghanistan, Mali. Das sind die Hotspots der letzten Jahre. Da haben Krisenpläne einfach keine Priorität genossen. Ein erfreulicher Ansatz ist jedoch bereits erkennbar: Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) soll künftig aufgewertet und besser wahrgenommen werden. Ob das die nächste Krise besser bewältigen hilft, wage ich nicht zu beurteilen. Zumindest ist die Aufwertung des Amtes ein Indiz dafür, dass das System lernfähig ist. (Anm.: Immerhin neun Millionen Deutsche tragen das BBK schon in ihrer Hosentasche: Sie haben die Warn-App „NINA“ heruntergeladen. Die warnt nicht nur vor Hochwasser oder Unwettern, sondern bringt auch Informationen zum Infektionsgeschehen und die lokal aktuell geltenden Corona-Regeln aufs Handy).

Welche Zukunft erwartet uns – mit oder irgendwann auch ohne Corona?

Dr. Kaim: Man kann das Argument anführen, dass nach den dunklen Jahren der mangelnden internationalen Kooperation unter Donald Trump die Pandemie uns deutlich gemacht hat, dass globale Kooperation notwendig ist. Das sehen wir beispielsweise in der Wiederaufwertung der Weltgesundheitsorganisation. Die USA unter Präsident Biden sind wieder Mitglied geworden. Das sehen wir deutlich aber auch in der Bereitschaft der Partner des G7- Treffens die Covax-Initiatve der WHO zu unterstützen und ärmeren Ländern im globalen Süden Impfstoffe zur Verfügung zu stellen. Darin spiegelt sich ein Bewusstsein für Kooperation wider, die angesichts dieser globalen Herausforderungen nicht nur sinnvoll und angemessen, sondern auch geboten ist. Vielleicht werden wir auf die Pandemie in der internationalen Politik künftig zurückschauen und sogar sagen: Das war ein Kooperationskatalysator! Ob wir wirklich zur Normalität zurückkehren werden? Das wird sich zeigen. Fest steht: Die Pandemie ist noch nicht vorbei. Bemerkens- und bewundernswert ist jedoch, dass Pharmafirmen durch gemeinsame Anstrengungen Impfstoffe gegen eine Krankheit wie Covid-19 so schnell und effizient entwickelt und dazu auch noch milliardenfach produziert haben. Das stimmt mich doch sehr zuversichtlich. Welche Herausforderung sollte uns eigentlich dann noch schrecken, wenn wir Covid-19 durch den menschlichen Erfindergeist in die Knie zwingen können. +++ ms