Corona-Pandemie: Spahn sieht exponentielles Wachstum gebrochen

Braun warnt vor Triage bei Überlastung des Gesundheitswesens

Jens Spahn (CDU)
Jens Spahn (CDU)

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bewertet das November-Maßnahmenpaket der Bundesregierung in der Coronakrise als Erfolg. „Der Wellenbrecher funktioniert doch“, sagte Spahn im der „Welt“-Streitgespräch mit FDP-Chef Christian Lindner. „Das exponentielle Wachstum ist gebrochen. Wir sind uns einig, dass das nicht reicht. Aber es ist gelungen – einmal mehr.“ Der Minister rechtfertigte die hohe Bedeutung, die die Regierung den Infektionszahlen beimisst. „Wir sind das Land mit einer der ältesten Bevölkerungen weltweit“, sagte Spahn. „Wenn die Infektionszahlen steigen, steigt früher oder später auch der Behandlungsbedarf auf den Intensivstationen.“

Belgien, die Niederlande und Frankreich hätten Deutschland erneut gebeten, Patienten aufzunehmen, weil die Intensivkapazitäten dort ausgeschöpft sind. „Ich will, dass wir die Welle brechen, bevor unnötig viel Leid in den Krankenhäusern entsteht“, sagte Spahn. Es führe kein Weg daran vorbei, die Infektionszahlen insgesamt niedrig zu halten. Bislang habe die Bundesregierung dabei mit vergleichsweise milden Maßnahmen gute Ergebnisse erreicht. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner warf der Regierung dagegen Strategielosigkeit vor. „Meine Befürchtung ist: Wir finden aus dem aktuellen November-Lockdown in diesem Jahr nicht wieder raus“, sagte Lindner. „Und falls wir ihn beenden, dann ist wenige Wochen später der nächste da. Das wäre eine Stop-and-Go-Politik, die enormen sozialen und wirtschaftlichen Schaden verursacht.“ Die Wellenbrecher-Strategie der Regierung funktioniere nicht, sie sei nicht dauerhaft durchhaltbar: „Das Erfolgskriterium für den Wellenbrecher ist für mich nicht nur die Senkung der Zahlen, sondern auch die Zeit danach. Kann man wieder öffnen, oder wird ein dauerhafter Lockdown daraus? Nach Öffnung sieht es nicht aus“, so der FDP-Chef. Mit einem besseren Schutz der Risikogruppen wäre die Schließung von Gastronomie, Kultur, Freizeit und Sport unnötig gewesen, sagte Lindner: „Es ist möglich, auch öffentliches, kulturelles und wirtschaftliches Leben zu ermöglichen, sofern Abstand und Hygiene eingehalten werden.“

Braun warnt vor Triage bei Überlastung des Gesundheitswesens

Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) hat davor gewarnt, durch eine anhaltend hohe Corona-Infektionsrate Auswahlprozesse bei der Aufnahme von Intensivpatienten auszulösen. „Wenn ein Gesundheitssystem überlastet ist, kann man die Triage nicht ausschließen“, sagte Braun dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. Die Zahlen der in Deutschland verfügbaren Intensivbetten sinke. In der Schweiz seien mittlerweile alle Intensivbetten belegt. „Dort wird nun abhängig vom Lebensalter und von Vorerkrankungen entschieden, wer vordringlich behandelt wird. Es gibt einen breiten Konsens in der Gesellschaft, dass wir das vermeiden wollen“, sagte Braun. Trotzdem setzt er darauf, dass in Deutschland das Weihnachtsfest im Familienkreis gefeiert werden kann. „Es ist für mich nicht vorstellbar, dass die Großeltern an Weihnachten nicht mitfeiern“, sagte Braun. „Deswegen muss man besondere Sorgfalt walten lassen. Wichtiger als die Anzahl der Menschen, die zusammenkommen, ist, dass man vorher seine Kontakte reduziert und darauf achtet, dass niemand Symptome hat.“ Die Maßgabe des Bundeskanzleramts, dass jede Familie privat nur noch mit einer Person aus einem weiteren Haushalt Kontakt haben solle, sei nicht als Verpflichtung zu sehen. „Es handelt sich nicht um eine Vorschrift, sondern um einen Verhaltenshinweis. Es ist eine Art Winter-Knigge“, sagte Braun. „Kontaktvermeidung klingt sehr abstrakt. Der Hinweis, dass man Feiern, Treffen mit vielen Freunden und Reisen vermeiden soll, zeigt, worauf es ankommt.“ Der Kanzleramtsminister selbst plant keine größeren Festivitäten zum Jahresende. Weihnachten feiere er „wie jedes Jahr in sehr kleinem familiären Kreis“, sagte Braun. Eine Silvesterparty werde es nicht geben. „Es ist nicht die richtige Zeit, um Silvester groß zu feiern. Das wird in diesem Winter nicht möglich sein“, so Braun.

Zi-Chef: Sieben-Tage-Inzidenzwert wenig aussagekräftig

Dominik von Stillfried, Vorstandsvorsitzender des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi), hält den im reformierten Infektionsschutzgesetz festgelegten Sieben-Tage-Inzidenzwert von 50 Corona-Infizierten pro 100.000 Einwohner für wenig aussagekräftig. „Er ist nicht nach Alter differenziert; die Inanspruchnahme der Intensivstationen und die Sterblichkeit sind aber stark altersabhängig“, sagte von Stillfried dem „Mannheimer Morgen“. 50 Fälle pro 100.000 Einwohner in der Altersklasse der 15- bis 34-Jährigen hätten deshalb eine ganz andere Aussagekraft als 50 Fälle in der Altersgruppe der über 60-Jährigen, die in der aktuellen Pandemie besonders stark betroffen seien. Insofern könne der Wert auch keinen Bezug herstellen zu den kritischen Kapazitäten in der medizinischen Versorgung. Aktuell sei ein deutlicher Anstieg der Infektionen bei über 60-Jährigen sowie in Alters- und Pflegeheimen zu beobachten. „Leere Kinos sind off enbar kein Schutz für Risikogruppen“, sagte von Stillfried. „Wenn wir verhindern wollen, dass Krankenhäuser an ihre Belastungsgrenze kommen und womöglich entscheiden müssen, welchen Patienten sie noch behandeln und welchen nicht, muss das Frühwarnsystem abbilden, wie hoch der Anteil der Risikogruppen unter den Infizierten ist.“ Zudem wies er darauf hin, dass der Inzidenzwert von 50, der sich an den Kapazitäten der Gesundheitsämter bei der Kontaktnachverfolgung orientiere, aus der ersten Welle stamme. „Seitdem wurden die Gesundheitsämter personell aufgestockt, auch die Bundeswehr hilft inzwischen aus. Wenn der Wert von 50 im Frühjahr die Belastungsgrenze der Gesundheitsämter markiert hat, hätte er eigentlich entsprechend erhöht werden können – auf 75 oder 100.“ Das Zentralinstitut ist eine Forschungseinrichtung der Kassenärzte. +++