Bundestags-Mehrheit für längere epidemische Lage fraglich

Bremens Bürgermeister verlangt Ende der Sieben-Tage-Inzidenz

Im Bundestag ist aktuell keine Mehrheit für eine Verlängerung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite absehbar. Das berichtet die „Welt“ unter Berufung auf Aussagen auch aus den Koalitionsfraktionen. Einen schnellen Beschluss zur Fortsetzung über den 30. September hinaus hatte Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz gefordert. „Es gibt keinen Automatismus auf eine Verlängerung der epidemischen Lage. Wir schauen uns das Infektionsgeschehen in den kommenden Wochen genau an und entscheiden dann im Bundestag über die geeigneten Maßnahmen“, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt der Zeitung.

Für Dobrindt steht dabei fest: „Die Inzidenzzahl hat als Maß aller Dinge ausgedient und muss erweitert werden zu einem dynamischen Dreiklang aus Intensivbetten-Auslastung, Impffortschritt und Inzidenz.“ Fraktions-Vize Carsten Linnemann (CDU) wird noch deutlicher: „Klarer Fall: Die epidemische Lage muss auslaufen. Wir haben wirksame Impfstoffe, über die Hälfte der Bevölkerung ist bereits vollständig geimpft.“ Jetzt müsse man Schritt für Schritt zur Normalität zurück. „Sonderbefugnisse für die Bundesregierung sind nicht mehr gerechtfertigt.“ Selbst in der SPD sind einige zurückhaltender als Scholz. „Entscheidend ist, dass wir Rechtssicherheit haben, um weiterhin Maßnahmen gegen die Eindämmung der Pandemie ergreifen zu können“, sagte Fraktionsvize Dirk Wiese der „Welt“. Dazu zählte etwa die Maskenpflicht in Innenräumen oder die Kontaktnachverfolgung in der Gastronomie. „Einerseits wäre es möglich, die epidemische Lage fortgesetzt zu beschließen. Dies hängt aber auch davon ab, wie sich das Infektionsgeschehen in den nächsten Tagen und Wochen entwickelt.“ Die Linke-Fraktion kündigt an, gegen eine Verlängerung der epidemischen Lage zu stimmen, sollten die Koalitionsfraktionen diese beantragen. „Die haarsträubenden Fehler von Jens Spahn (CDU) machen deutlich, dass die Alleingänge der Bundesregierung dringend beendet werden müssen“, sagte Fraktionsgeschäftsführer Jan Korte. Mit Nein wollen auch FDP und AfD stimmen. „Eine Rückkehr zum verfassungsmäßigen Normalzustand ist erforderlicher denn je“, sagte FDP-Bundestagsfraktions-Vize Michael Theurer. Nach Ansicht der AfD-Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel hätte die epidemische Lage schon längst aufgehoben werden müssen: „Dass der Gesundheitsminister keine wirkliche Lockerung will, zeigen seine Pläne für einen Lockdown für nicht geimpfte, gesunde Bürger. Der Ausnahmezustand darf nicht zur neuen Normalität werden.“ Der Augsburger Verfassungsjurist Josef Lindner sieht eine Verlängerung ebenfalls kritisch: „Die Verlängerung auf Verdacht, etwa mit Blick auf die Bundestagswahl und die Zeit danach, ist eine sachfremde Erwägung, die keine Rolle spielen darf. Das wäre hochgradig angreifbar.“ Grundrechtseinschränkungen könnten nicht von der Handlungsfähigkeit der Politik abhängig gemacht werden.

Bremens Bürgermeister verlangt Ende der Sieben-Tage-Inzidenz
Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) dringt auf einen Abschied von der Sieben-Tage-Inzidenz als wichtigstem Wert für die Beurteilung der Corona-Pandemie. „Wir brauchen einen neuen Wert, der das aktuelle Infektionsgeschehen beschreibt und Inzidenz und Impfquote nachvollziehbar miteinander ins Verhältnis setzt“, sagte er der „Welt“. „Es ist dank der Impfungen mittlerweile deutlich unwahrscheinlicher sich anzustecken oder zu erkranken.“ Noch unwahrscheinlicher sei es schwer zu erkranken. „Das muss in möglichen neuen Corona-Regeln zum Ausdruck kommen“, so Bovenschulte. Unterstützung erhält er aus Niedersachsen. Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) forderte Bund und Länder auf, sich am Dienstag „zwingend gemeinsam auf neue Parameter für die Bewertung der Gefährdungslage verständigen“. Auch gemeinsame Kriterien für den Umgang mit Geimpften, Genesenen und Getesteten seien nötig. „Dazu sollte meiner Ansicht nach auch gehören, das s Ungeimpfte dann ab einem noch festzulegenden Zeitpunkt im Herbst ihre Tests auch selbst bezahlen müssen – natürlich mit Ausnahme derer, die beispielsweise aus gesundheitlichen Gründen nicht geimpft werden können“, sagte Weil der „Welt“.

Einzelhandelsverband HDE besteht auf Lockdown-Verzicht
Der Hauptgeschäftsführer des Einzelhandelsverbands HDE, Stefan Genth, hat die Regierungschefs von Bund und Ländern aufgefordert, im weiteren Verlauf der Corona-Pandemie auf das Instrument des Lockdowns zu verzichten. „Es muss klar sein, dass es keinen Lockdown mit Geschäftsschließungen mehr gibt“, sagte er der „Welt“. Das würden viele Geschäfte nicht mehr verkraften. „Die Zeiten dieses tumben Holzhammers müssen vorbei sein. Da darf kein Automatismus entstehen, jede Maßnahme muss immer wieder von Neuem sauber begründet werden.“ Das Treffen der Regierungschefs müsse stattdessen „ein Signal der Hoffnung und ein Impuls für die Impfkampagne“ setzen. „Ein einfaches Weiter so oder gar die Rückkehr zu alten Lockdown-Ideen und die Fixierung auf Inzidenzen werden der Lage nicht mehr gerecht“, sagte Genth. +++