Armut in Deutschland insgesamt auf Rekordhoch

Armut in Hessen auf historischem Höchststand

Die Armutsquote in Deutschland hat mit 15,9 Prozent (rechnerisch 13,2 Millionen Menschen) einen neuen Rekord und den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung erreicht. Alles deute darauf hin, dass die Auswirkungen der Coronakrise Armut und soziale Ungleichheit noch einmal spürbar verschärfen werden, warnt der Paritätische Wohlfahrtsverband im aktuellen Paritätischen Armutsbericht, der am Freitagvormittag veröffentlicht wurde. Der Verband wirft in der Studie der Bundesregierung eine „armutspolitische Verweigerungshaltung“ vor und fordert eine sofortige Anhebung der finanziellen Unterstützungsleistungen für arme Menschen sowie armutsfeste Reformen der Sozialversicherungen. „Die vorliegenden Daten zur regionalen Verteilung, zur Entwicklung und zur Struktur der Armut zeigen Deutschland als ein in wachsender Ungleichheit tief zerrissenes Land. Immer mehr Menschen leben ausgegrenzt und in Armut, weil es ihnen an Einkommen fehlt, um den Lebensunterhalt zu bestreiten und an unserer Gesellschaft gleichberechtigt und in Würde teilzuhaben.“

Volkswirtschaftliche Erfolge kämen seit Jahren nicht bei den Armen an und in den aktuellen Krisen-Rettungspaketen würden die Armen weitestgehend ignoriert. „Was wir seitens der Bundesregierung erleben, ist nicht mehr nur armutspolitische Ignoranz, sondern bereits bewusste Verweigerung“, kritisiert Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Bei allen ohnehin seit Jahren besonders armutsbetroffenen Gruppen (wie bspw. Alleinerziehenden, Arbeitslosen und kinderreichen Familien) hat die Armut von 2018 auf 2019 noch einmal zugenommen. Betrachtet man die Zusammensetzung der Gruppe erwachsener Armer ist der ganz überwiegende Teil erwerbstätig (33,0 Prozent) oder in Rente (29,6 Prozent). Regional betrachtet wuchs die Armut 2019 im Vergleich zum Vorjahr praktisch flächendeckend. Positive Entwicklungen, die zuletzt in den ostdeutschen Bundesländern zu beobachten waren, sind gestoppt. Armutsgeografisch zerfällt Deutschland dabei laut Studie in zwei Teile: Im gut gestellten Süden haben Bayern und Baden-Württemberg eine gemeinsame Armutsquote von 12,1 Prozent. Der Rest der Republik, vom Osten über den Norden bis in den Westen, kommt zusammen auf eine Quote von 17,4 Prozent. Außerhalb von Bayern und Baden-Württemberg lebt durchschnittlich mehr als jeder Sechste unterhalb der Armutsgrenze. Das problematischste Bundesland bleibt mit Blick auf Armutsdichte und Dynamik Nordrhein-Westfalen: Seit 2006 ist die Armutsquote in dem bevölkerungsreichen Bundesland zweieinhalbmal so schnell gewachsen wie die gesamtdeutsche Quote. Armutstreiber in NRW ist das Ruhrgebiet mit einer Armutsquote von 21,4 Prozent. Der Verband warnt vor einer drastischen Verschärfung der Armut in 2020 angesichts der aktuellen Corona-Pandemie. Besonders betroffen seien geringfügig Beschäftigte sowie junge Menschen, die corona-bedingt schon jetzt von wachsender Arbeitslosigkeit betroffen sind. „Corona h at jahrelang verharmloste und verdrängte Probleme, von der Wohnraumversorgung einkommensschwacher Haushalte bis hin zur Bildungssegregation armer Kinder, ans Licht gezerrt. Eine zunehmende Zahl von Erwerbslosen stößt auf ein soziales Sicherungssystem, das bereits vor Corona nicht vor Armut schützte und dessen Schwächen nun noch deutlicher zutage treten“, so Ulrich Schneider. Der Paritätische fordert die Umverteilung vorhandener Finanzmittel zur Beseitigung von Armut. „Deutschland hätte es in der Hand, seine Einkommensarmut abzuschaffen und parallel für eine gute soziale Infrastruktur zu sorgen. Es klingt banal und wird bei vielen nicht gern gehört: Aber gegen Einkommensarmut, Existenzängste und mangelnde Teilhabe hilft Geld“, so Schneider. Konkret seien eine bedarfsgerechte Anhebung der Regelsätze in Hartz IV und der Altersgrundsicherung (nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle auf mindestens 644 Euro), die Einführung einer Kindergrundsicherung sowie Reformen von Arbeitslosen- und Rentenversicherung nötig.

Armut in Hessen auf historischem Höchststand

Die Armut lag 2019 in Hessen erneut über dem Bundesdurchschnitt und erreicht einen neuen Höchststand. Der stetige Anstieg war schon vor der Corona-Pandemie ungebrochen und wird durch die Corona-Krise noch einmal drastisch verstärkt. Nach dem Armutsbericht, den der Paritätische Gesamtverband heute in Berlin veröffentlicht hat, ist die Armut in Hessen seit 2006 um mehr als ein Drittel gewachsen, so stark wie in keinem anderen Bundesland. 2019 lag die Armutsquote in Hessen bei 16,1 Prozent, deutschlandweit bei 15,9 Prozent. „Die Zahlen waren schon vor Corona alarmierend, mit der Pandemie hat sich die Entwicklung dramatisch verschärft“, sagt Dr. Yasmin Alinaghi, Landesgeschäftsführerin des Paritätischen Hessen. Im Oktober 2020 lag die Arbeitslosenquote bei 5,3 Prozent und damit um 1,3 Prozentpunkte höher als ein Jahr zuvor. Die Zahl der Beschäftigten in Kurzarbeit ist zwischen Februar und Juli 2020 geradezu explodiert, von 9700 auf fast 328.000. Die Krise trifft nicht alle gleichermaßen, sondern Geringverdienende besonders heftig. „Prekär Beschäftigte verlieren als erste ihre Arbeit und können vom Lohn in der Kurzarbeit nicht leben“, sagt Annette Wippermann, Referentin für Arbeitsmarkpolitik beim Paritätischen Hessen. Der ausufernde Niedriglohnsektor kann als eine der Ursachen für Armut in Hessen ausgemacht werden. Denn bis zur Corona-Krise sanken die Quoten bei Arbeitslosigkeit und Hartz IV-Bezug stetig, während die Armut gleichzeitig stieg. Immer mehr Menschen waren demnach arm trotz Arbeit. Ein neues Allzeithoch ist in Hessen auch bei der Kinderarmut zu beklagen. 2019 war mehr als ein Fünftel aller unter 18-Jährigen betroffen, nämlich 21,9 Prozent, 0,8 Prozentpunkte mehr als im Jahr zuvor. Mit Blick auf die regionalen Zahlen zeigt der Armutsbericht für Südhessen und die Rhein-Main-Region einen besonders negativen Trend. Dort hat sich die Armutsquote seit 2006 fast verdoppelt, Südhessen verzeichnet seitdem ein Plus von 46,7 Prozent, Rhein-Main von 45,7 Prozent. Beide Regionen gehören damit zu den fünf Regionen mit dem größten Armutszuwachs deutschlandweit. Besonderen Anlass zur Sorge gibt auch die Entwicklung in Frankfurt, wo die Armutsquote von 2018 auf 2019 von 15,4 auf 19 Prozent nach oben geschnellt ist. Damit liegt die europäische Bankenhauptstadt weit vor anderen deutschen Großstädten und hat im vorigen Jahr Dresden überholt. Um die Armut einzudämmen sind bundesweite Maßnahmen überfällig. Unter anderem müssen die Hartz IV-Regelsätze so erhöht werden, dass sie den Lebensbedarf decken, Arbeitslosenversicherung und Alterssicherungssysteme müssen gestärkt und eine Kindergrundsicherung eingeführt werden. Doch es gibt auch landespolitisch Stellschrauben: Um den Niedriglohnsektor zu verkleinern, muss im öffentlichen Bereich das Vergabe und Tariftreuegesetz eingehalten werden. Ebenso liegt es in der Hand des Landes, mit einem sofortigen Mietenstopp die Wohnkosten einzubremsen, die trotz Pandemie weiter steigen und längst auch mit Einkommen über der Armutsschwelle nicht mehr erschwinglich sind. +++